„We touch things to assure ourselves of reality.
We touch the objects of our love. We touch the things we form.“
Anni Albers, Tactile Sensibility, 1965
Etwas taktil wahrzunehmen, heißt hängenzubleiben, nicht nur Oberflächen und Muster, sondern die Konturen mehrdimensionaler Körper und Phänomene nachzufahren, ihnen nachzugehen ins Unübersichtliche; nicht fest zupacken, was in den Händen liegt, sondern die Sinne empfänglich zu halten, um in der Berührung von einem Gegenüber aktiv kontaktiert zu werden.
Linda Weiß’ Arbeiten bauen auf einem solchen unmittelbaren Körperkontakt auf: mit Materialien, deren Bearbeitung, in Ökosystemen. Das Erforschen mündet meist in ergebnisoffenen Selbstversuchen der Kohabitation mit einem für die Künstlerin noch unbekannten Organismus, einer stofflichen Gemengelage in dessen sozialen Milieu: Bakterienkulturen und Komposthaufen* werden kultiviert, hybride Landschaften aus natürlich-künstlichen Bestandteilen gefügt und bewohnt, eine Vernetzung mit ganz unterschiedlichen Akteur*innen im Feld, etwa Trüffeljägern, Meeresbiologinnen oder lokaler Tierprominenz, gesucht. Das Herstellen und genaue Betrachten von Beziehungen, die wir im Alltag zu anderen Menschen und mehr-als-menschlichen Entitäten eingehen, ist Ausgangspunkt und Ziel in einem Prozess, in dem Schritt für Schritt Verbindungen geknüpft und Schnittmengen gefunden werden. Ähnlich wie der Ansatz der „patch dynamics“ zur Annäherung an komplexe Ökosysteme, stets die zeitliche Veränderung und wechselseitige Beeinflussung kleiner Subsysteme beobachtend, arbeitet Linda Weiß mit eigenartigen, sich oft unvorhergesehen verhaltenden Flecken und Lücken unterschiedlicher Interessensfelder und spekulativer Wissensgebiete, die sich nach und nach annähern und ausdifferenzieren. Ihre Installationen sind kleinteilig, meinen nicht das „große Ganze“, sondern das, was in den Zwischenräumen (weiter)wächst, sich stetig neu formiert.
Die handgefertigten Objekte sehen mürbe, brüchig, gar gebrochen aus, liegen wie feine Schalen in der Hand, sind dem Panzer von Gürteltieren oder Seepocken nachempfunden; dann wieder haben wir Formen kleiner Meeresorganismen vor uns, durchdrungen von Salzkristallen, mit Bienenwachs porentief geschützt oder rau zur Aufnahme bereit; mal heiß gebrannt, dem Wasser trotzend, mal bloß bei niedriger Gradzahl im Ofen geschrüht und dadurch kontaktfreudig (für Feuchtigkeit) bleibend. Keramik, in all diesen wechselnden reaktiven Eigenschaften, ist ein wiederkehrendes Element in Linda Weiß’ Arbeiten. Die Objekte sind dabei weniger finale Werkstücke, sondern spielen veränderliche Rollen in vielfältig aufgeladenen Versuchsanordnungen – als Handschmeichler, „alien matter“, Souvenirs, Vorboten, Begleiter für quere Zeitlichkeiten, Proviant für alle Sinne. Sie zeigen für sich jeweils nur einzelne Stadien einer fortwährend entwickelten Beziehung zum Material, deren Verlauf sich in den größer angelegten Installationen spiegelt.
Buchstäblich oder im übertragenen Sinn werden den Begegnungen mit dem Material bestimmte „Grundformen“ abgenommen und darin (Hohl-)Räume geschaffen, die anschließend bildhauerisch bewohnt und belebt werden: von mythologischen und popkulturellen Assoziationen, Lifestyle-Trends und Spielzeug-Attraktionen, Meerjungfrauen und Medusa; Spiel und Ernst zugleich, vorsichtig tastend zwischen liebgewonnenen Konsumgewohnheiten und alternativen Weisen, eine Umwelt zu erfahren.
Inspiriert von diesen Sphären werden die skulpturalen Elemente der Installationen ausgestattet und ausstaffiert, sodass sie als Individuen mit eigenständiger Handlungsmacht auftreten – ernst genommene Hybride unterschiedlicher Wertzuschreibungen und Projektionen persönlicher, individueller wie kollektiver Geschichten.
Als Initiieren von „affective interfaces“ bezeichnet die Künstlerin auch ihren Ansatz, geteilte Räume für unterschiedliche Akteur:innen und Aktanten zu schaffen, um dort deren Zusammenwirken sowohl anzuregen als auch neugierig, behutsam zu beobachten. Die experimentellen „Stresstests“, die die Materialien durchlaufen, während sie mit anderen vermischt werden, lassen genau jene Andockstellen und Reflexionsräume entstehen, in die weitere Mitspielende hinzukommen und andocken können: wenn sich produktiv Risse im zuvor stabil Geglaubten auftun und neues Wissen aus einem mehr-als-menschlich geteilten Alltag entsteht.
Erzählerisch dicht, doch durchlässig mit verschiedenen Ein- und Zugängen bieten die Installationen etwa Sitzsäcke und Liegeflächen zum Verweilen. Perspektiven verändern sich auch durch bewusste Um-Positionierung der Betrachtenden im Raum. Oft sind die atmosphärischen Inszenierungen Ergebnis der Überführung sinnlicher Eindrücke aus einem Ökosystem oder Erfahrungsraum in einen anderen: Was wir sehen, fühlen und hören, sind Texturen, verändert durch die Hand des Menschen, der die „lebhafte Materie“** nutzbar macht für seine Alltagsbedarfe. Substanzen, die sich dehnen, biegen, stretchen oder aufreißen, aufweichen, sich anpassungsfähig zeigen oder störrisch auf ihre Grenzen beharren. Materialien als Ausdruck eines Mit- und Gegeneinanders, das wechselseitige Spannungen, Belastungen zwischen Lebensräumen anerkennt und das sich Sorgen wie auch das in Ruhe Seinlassen nicht als Entweder-Oder, sondern als prekäres Spiel unterschiedlicher Kapazitäten und Berührbarkeiten übt.
Text: Ellen Wagner
* Seit 2016 ist Teil des Kollektivs Blockadia*Tiefsee, zu dessen Mitgliedern auch Linda Weiß zählt, eine sich fortwährend entwickelnde Wurmkompostgruppe. Seit 2019 teilt die Künstlerin sich mit einem Teil der Population Schreibtisch und Atelier.
** Jane Bennett, Lebhafte Materie. Eine politische Ökologie der Dinge, Berlin: Matthes & Seitz 2020.
Fotos: studiopandan für Edit, No. 91
In ihren materialreichen Installationen nutzt die Künstlerin Linda Weiß taktile Praktiken wie das Fermentieren und Kompostieren, um gemeinsam mit mehr-als-menschlichen Kollaborateur*innen wie Pilzen und Bakterien geteilten Raum in einem direkten Austausch zu befragen. Durch Beobachtungen, eigene Versuche im Feld und eine Faszination für Metabolismus folgt sie in ihren Arbeiten Spuren von Irritationen im zwischen- und (nicht-)menschlichen Miteinander. Über sogenannte Dockingstations bindet Weiß in Arbeiten wie der Raum-Klang-Installation Looking for Medusa (2023; entstanden gemeinsam mit Nina M. W. Queissner) menschliche Betrachter*innen mit in diesen Prozess ein und verdeutlicht dadurch ihre eigene Körperlichkeit als inhärenten Teil von rhizomaren Strukturen. Sie versteht diesen Kreislauf als eine Form der Anthropologie, die nicht mehr als ein rein menschliches Unterfangen verstanden werden kann und die Idee eines individuellen Organismus – ganz im Sinne der Anthropologin Anna Lowenhaupt Tsing – hinter sich lässt:
(…) We’re used to an idea of individual organisms – humans and nonhumans – that may interact with others because they can’t develop, they can’t become who they are, without these other organisms.
Text: Sonja Maria Borstner
CV
2022–2022
Meisterschülerin, Weißenhofprogramm,
Akademie der Bildenden Künste Stuttgart,
betreut von Antonia Low, Susanne M. Winterling, Alison Sperling
2019
Diplom Freie Kunst,
Hochschule für Gestaltung Offenbach am Main,
betreut von Susanne M. Winterling, Marc Ries
2012–2019
Freie Kunst,
Schwerpunkt Bildhauerei, Soziologie der Medien,
Hochschule für Gestaltung Offenbach am Main
2009-2012
Kunstpädagogik (bis 6. Semester), Soziologie (bis 4. Semester), Goethe Universität, Frankfurt
2021-2023
Lehrbeauftragte im Bereich Kunst, Intermediales Gestalten, Architektur & Design,
Akademie der Bildenden Künste Stuttgart,
gefördert durch das Mathilde-Planck-Stipendium des Landes Baden-Württemberg
seit 2016
Teil des Kollektivs Blockadia*Tiefsee
Stipendien/Preise
2025
Kunsthub-Preis, Leinfelden-Echterdingen
Rechercheförderung, Stadt Stuttgart
2024
Rechercheaufenthalt (AiR), Almresidency, bayerisches Voralpland
2023
Stipendium, Kunststiftung Baden-Württemberg
Keramik-Werkstattstipendium, Künstlerhaus Stuttgart
Stipendium, NEUSTARTplus, Stiftung Kunstfonds, Bonn
2022
Arbeitsstipendium, Kunstfond d. Bürgerstiftung Stuttgart
1-monatiger Arbeitsaufenthalt (AiR), BigCi, Wollemi National Park, New South Wales, Australien
3-monatiger Arbeitsstipendium (AiR), CEAAC, Straßburg, Frankreich, gefördert durch Kunststiftung Baden-Württemberg, Ministerium für Wissenschaft und Kunst Baden-Württemberg, Institut Français Stuttgart, CEAAC (Centre Européen d’Actions Artistiques Contemporaines), DRAC Grand Est, Region Grand Est.
2021
Projektförderung, Ministerium für Wissenschaft und Kunst Baden-Württemberg
2020
Projektförderung, Hessisches Ministerium für Wissenschaft und Kunst, Hessische Kulturstiftung
2019
Projekt Kunst im öffentlichen Raum (AiR), Global Youth Culture Forum/UCLG, Jeju, Süd-Korea
2018
Rechercheaufenthalt, Global Youth Culture Forum/UCLG, Jeju, Süd-Korea
Ausstellungen (Auswahl)
2025
09 Skulpturenpfad am Rechelkopf, AlmResidency, Marienstein-Waakirchen
05-08 looking for a place to hide, e-haut mit Susanne M. Winterling, Parrotta Contemporary Art, Köln; Burg Lede, Bonn (Gruppe)
02-03 AlmResidency #9, Lothringer 13 Halle, München (Gruppe)
2024
05-07 Blob! Parasiten, Symbionten und andere nichtmenschliche Akteure. Ein kollaboratives Kunstprojekt, Kunstverein Neuhausen, Fildern (Gruppe)
2023
10-11 Misfortune must be fought back, Kunsthaus L6, Freiburg (Gruppe)
06/23-01/24 Looking for Medusa, in Kooperation mit Nina M. W. Queissner, Senckenberg Naturmuseum, Frankfurt (Solo)
04 Ein Herz ist, Oberwelt e. V., Stuttgart (Gruppe)
2022
11 etwa faustgroß, Villa Merkel, Esslingen (Gruppe)
2021
11/21-03/22 Wachsende Formen. Organische Prozesse in der Kunst, Kunstmuseum Heidenheim (Gruppe)
04 Sieben, AKKU, Stuttgart (Gruppe)
2020
10 Quantified Selves: Vulnerable Bodies, Space One, Seoul, Süd-Korea, und Basis e. V., Frankfurt (Gruppe)
05 Mañana es Tuya #1, Kunstverein Mañana Bold e. V. (Gruppe)
2019
12 get well soon, Kunsthaus Nürnberg (Gruppe)
2018
07 body / tech, Museum für angewandte Kunst, Frankfurt (Gruppe)
Ausstellung als Teil
von Blockadia*Tiefsee (Auswahl)
2025
05-08 looking for a place to hide, Parrotta Contemporary Art, Burg Lede (Gruppe)
04-08 Fixing Futures, mit Blockadia*Tiefsee, Museum Giersch, Frankfurt (Gruppe)
05-09 Habitate. Über_Lebensräume, 16. Triennale Kleinplastik Fellbach, mit Blockadia*Tiefsee, Alte Kelter Fellbach (Gruppe)
2023
06-10 Hausputz! Und andere Visionen für das Museum Kurhaus Kleve, Museum Kurhaus Kleve
2021
02/21-01/22 Soil Strings – Commoning und Kompost, Synnika, Frankfurt
2019
09 Blockadia*Tiefsee, kit@ntnu, Trondheim, Norwegen
2017
10 Blockadia*Tiefsee, Generali Foundation, Museum der Moderne, Salzburg, Österreich
01 Blockadia*Tiefsee, Kunstverein Freiburg, Freiburg
Publikationen, Texte
Weiß, L. (2024). 'Schön mit Dir', in Misfortune must be fought back, Stuttgart: Kunststiftung Baden-Württemberg, pp. 21-36, 65-80.
Blockadia*Tiefsee (2024). We are swimming in worm tea. poster publication #4, Kleve: Kunstmuseum Kurhaus Kleve.
Weiß, L. (2023). A vase is a vessel, even a cocoon, Strasbourg: CEAAC, Centre européen d'actions artistiques contemporaines.
Sperling, A. (2023). 'Sehnsüchte. Prozessstufe II', in etwa faustgroß, Stuttgart: Academy of Art and Design Stuttgart.
Wagner, E. and Weiß, L. (2022). 'Wish I could be part of that world', in Kristen sichtbar machen. Dialoge zwischen Wissenschaft, Kunst und Design. Wiesbaden: Springer Verlag, pp. 193–204.
Weiß, L. (2020). 'tuck your tailbone', in Quantified Selves: Vulnerable Bodies, Frankfurt/Seoul: self-published.
Workshops, Screenings, Gespräche (Auswahl)
2025
06 Newest wormery workshop as Blockadia*Tiefsee member, part of the exhibition Habitate. Über_Lebensräume, Fellbach (ongoing series since 2016)
2024
08 Sound Piece: Zärtlich geht die Welt zu Grunde: Still Looking for Medusa, Collaboration with Nina M. W. Queissner, broadcast on radia.fm network
07 Workshop on community-based economies with Timo Wans (MYZELIUM), Part of the exhibition BLOB!, Kunstverein Neuhausen/DE
2023
11 Crystal workshop with Dr. Wolfgang Olbrich (Material sScientist, Stuttgart). Part of exhibition Looking for Medusa, Senckenberg Naturmuseum Frankfurt/DE
2022/2023
09 Field trip and workshops at Floating University, Berlin, Collaboration with Antonia Low, part of Mathilde Planck Program
2022
12 Artist Talk at Open Days, BigCi, Wollemi Nationalpark/AUS
10 Screening Only Lovers Left Alive (dir. Jim Jarmusch) and discussion with Barbara Wild, (Psychiatry, Nürtingen-Geislingen University). Collaboration with Jochen Wagner and The Local Cinema, Esslingen. Part of the exhibition etwa faustgroß, Villa Merkel, Esslingen/DE
2021
06 Bodies of water, research contribution with Sarah Reva Mohr. Symposiums Waterworlding, reflecting on multiple waters, Phillips University Marburg/DE
2020
11 The semiotics of slime: Workshop lecture with Sarah Reva Mohr. Norwegian University of Science and Technology, Trondheim/NO